Kriegsenkel-Syndrom: Folge eines transgenerationalen Traumas

Entwicklungstrauma als Folge des 2. Weltkriegs: Wie uns die Vergangenheit unserer Vorfahren bis heute prägt

Traumata können auch transgenerational, also von Generation zu Generation weitergegeben werden. So hat beispielsweise der 2. Weltkrieg nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf die Folgegenerationen gehabt. Die Kriegsenkel wurden durch die nicht verarbeiteten Erlebnisse ihrer Eltern und Großeltern indirekt traumatisiert, sprich ohne selbst ein Trauma erlitten zu haben.

Über die Kriegsgeschehnisse wurde in den meisten Familien geschwiegen. Die damit verbundenen Gefühle wurden verdrängt und in die nachfolgenden Generationen getragen. Dort machen sie sich heute in Form von eher unspezifischen Symptomen bemerkbar. Unspezifisch, weil es keine Ursache, keinen klar identifizierbaren Auslöser dafür zu geben scheint. Das Lebensgefühl dieser Generation ist in den letzten Jahren auch unter dem Begriff Kriegsenkel-Syndrom in den Fokus der Öffentlichkeit geraten und weist dieselben Symptome wie ein Entwicklungstrauma auf.       

Fehlendes Bewusstsein für Traumatisierung bei den Kriegskindern

Lange Zeit gab es kein Bewusstsein dafür, dass die Kriegserlebnisse als traumatisch einzuordnen sind. Da alle kollektiv unter dem Krieg gelitten haben, galt das Erlebte und damit verbundene Leid als normal. Vor dem Hintergrund, dass die Deutschen Täter waren, haben die damit verbundenen Schuld- und Schamgefühle dazu geführt, dass es kein Recht gibt, sich selbst als Opfer zu sehen und zu beklagen. Das eigene Leid musste hinter der Schuld und Scham zurückgestellt werden. Heute weiß man, dass rund ein Drittel der Kriegskinder typische Anzeichen von Traumatisierung in Form einer Posttraumatischen Belastungsstörung aufweisen: Beispielsweise ein übersteigertes Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle, cholerische Anfälle, Ängste und Panik, Antriebslosigkeit, Gefühlsarmut, Selbstbezogenheit, schnelle Überforderung und fehlende Stressresistenz.

Entwicklungstrauma als Folge der Erziehung durch traumatisierte Eltern

Die Erziehung nach dem Krieg erfolgte also durch Eltern, die traumatisiert waren, die im Überlebensmodus lebten, die funktionieren und ihre Erinnerungen und Gefühle abspalten mussten und verdrängten, weil sie im Krieg Schreckliches und Unaussprechliches erlebt hatten, was sie nicht erinnern und um jeden Preis hinter sich lassen wollten. Es war ein Schutz, um an den Erinnerungen nicht zu zerbrechen. Ihr Ziel war es, nach vorne zu schauen, damit es die Folgegenerationen einmal besser haben.

Eltern, die schweigen und verdrängen, sich nicht erinnern und nicht fühlen wollen, die schnell an ihre Grenze kommen und sehr mit sich beschäftigt sind, können sich selbst nicht gut spüren und haben dann Schwierigkeiten, für ihre Kinder präsent zu sein, diesen mit Mitgefühl zu begegnen und empathisch auf deren Bedürfnisse einzugehen. Sie haben nicht die Kraft, sich mit den Sorgen und Nöten ihrer Kinder auseinanderzusetzen. Hinzu kommt, dass in den Augen der Eltern die „Wehwehchen“ ihrer Kinder, die es umso vieles besser hatten, in keinem Verhältnis zu den eigenen Erlebnissen standen. Die, die keinen Krieg erlebt hatten, hatten es doch vergleichsweise gut: Sie hatten ein Zuhause und ein Dach über dem Kopf, wurden nicht vertrieben oder waren auf der Flucht, litten keinen Hunger, kannten nicht die Angst aus den Bombennächten und sollten sich nicht so anstellen, sich zusammenreißen und die Zähne zusammenbeißen.

Die Erziehung dieser Zeit ist auch vor dem Hintergrund des Erziehungsratgebers "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" von Dr. Johanna Haarer zu sehen. Das Buch wurde bis weit in die 80er Jahre aufgelegt und Eltern handelten mit bester Absicht danach. Säuglinge sollte man beispielsweise schreien lassen und nicht verwöhnen, damit sie nicht zu Tyrannen werden. Man wusste damals noch nicht, dass es einem Säugling nachhaltig schadet, dieser unter Todesangst leidet, wenn er alleine in einem Raum und bis zu seiner völligen Erschöpfung schreien gelassen wird.

Wer als Kind nicht gesehen wird, kann sich und die eigenen Bedürfnisse nicht wahrnehmen. Ein Kind, das nicht lernt, mit den eigenen Gefühlen umzugehen, bleibt sich fremd. Es versteht nicht, dass es ängstlich, wütend oder traurig ist, weil ihm kein Verständnis entgegengebracht und es ihm nicht erklärt wird. Gefühle werden verdrängt und nicht mehr wahrgenommen. Wer nicht fühlt, kann nicht mitfühlen. Werden Gefühle wie Angst und Wut verdrängt, werden auch Gefühlen wie Ekel, Trauer, Freude, Lust und Glück abgespalten. Dies könnte eine Erklärung für die Gefühlsarmut und fehlende emotionale Wärme der Kriegskinder und das daraus resultierende eingeschränkte Gefühlsempfinden der Kriegsenkel (Fehlen von Leichtigkeit und Lebensfeude) sein.

 

Kriegsenkel

 
  Als Kriegsenkel werden die Kinder der Kriegskinder bezeichnet. Mindestens ein Elternteil war während des Kriegs ein Kind. Kriegsenkel sind die Geburtsjahrgänge 1955-1975. Sie sind in Zeiten des Wohlstands aufgewachsen und im Grunde mit allen Voraussetzungen für ein erfolgreiches Leben ausgestattet. Sie sind die Altersgruppe, die am stärksten Psychotherapie in Anspruch nimmt, die demnach eine große Unzufriedenheit zu verspüren scheint, die in lange Zeit unbeachteten generationsspezifischen Gemeinsamkeiten zum Ausdruck kommt (Kriegsenkel-Syndrom).  
     
 

Kriegsenkel-Syndrom

 
 

Symptome

  • Identitätsverwirrung: Gefühl, nicht das eigene Leben zu leben, nirgendwo zuhause zu sein und nicht zu wissen, wer man ist und wohin man will
  • Gefühl wie ausgebremst zu sein, das eigene Potenzial nicht ausschöpfen zu können, hinter den eigenen Fähigkeiten zurückzubleiben
  • Diffuse Ängste: Zukunfts-, Versagens-, Existenzangst
  • Schwere und Anstrengung
  • Einsamkeit
  • Tiefsitzende Verunsicherung, Selbstzweifel
  • Mangelndes Selbstwertgefühl
  • Perfektionismus, der in Fleiß, enormem Leistungsdruck und lähmender Entscheidungsschwäche zum Ausruck kommt
  • Erschöpfung und trotz Höchstleistungen kein Gefühl der Befriedigung
  • Quälende Selbstermahnungen: "Stell dich nicht so an", "Reiß dich mal zusammen" oder "Dir geht es doch gut" oder auch "Anderen geht es viel schlechter."
  • Starkes Pflichtgefühl gegenüber den Eltern bei gleichzeitig fehlender emotionaler Nähe und Bindung
  • Bindungsschwierigkeiten, fehlender Mut zur Familiengründung, Kinderlosigkeit
  • Schwierigkeiten und Unverständnis zwischen den Generationen
 
   
 

Lebensgefühl

Viele Kriegsenkel funktionieren gut, fühlen sich aber nicht lebendig. Sie leiden unter einer Unzufriedenheit, die sie sich selbst nicht erklären und in Worte fassen können und für die es keine Berechtigung zu geben scheint, weil es ihnen doch eigentlich gut geht, sie womöglich sogar erfolgreich sind und es ihnen an nichts fehlt. Dennoch sind sie, angetrieben von einer inneren Sehnsucht, immer auf der Suche, ohne genau zu wissen, wonach und können nicht ankommen. Alles fühlt sich irgendwie schwer an, jeder Schritt ist mit einer enormen Anstrengung verbunden.
 
   
     

Kriegsenkel fühlen das Leid der Kriegskinder und deren Eltern

Es sind die Kriegsenkel, die fühlen und darunter leiden, was die Generationen davor vergessen wollten. Manche Kriegsenkel, deren Großeltern und Eltern im Krieg vertrieben worden sind und auf der Flucht waren, leiden sozusagen stellvertretend für ihre Vorfahren unter dem Gefühl von Heimatlosigkeit und sind rastlos und bis heute unterwegs (häufige Wohnort- und Arbeitsplatzwechsel), können nicht zur Ruhe und im eigenen Leben ankommen, ohne die Ursache dafür zu kennen, weil ihnen das dafür nötige Hintergrundwissen fehlt, in der Familie über diese Erlebnisse nicht gesprochen wird. Andere Kriegsenkel leiden unter einem tief empfundenen Gefühl des Alleinseins. Sie spüren die Einsamkeit der Kinderlandverschickten. Wieder andere Kriegsenkel halten die Ängste ihrer Vorfahren gefangen: Die Todesangst in den Bombennächten oder die Angst, jederzeit wieder alles verlieren zu können und bei null anfangen zu müssen.

Folgen für die Kriegsenkel

 
  • Kinder vermuten die Verantwortung für das Wohlergehen der Eltern instinktiv bei sich. Sie spüren, dass es ihnen nur gut gehen kann, wenn es den Eltern gut geht und sichern damit ihr Überleben. So übernehmen die Kriegsenkel zum Teil bis heute die Verantwortung für die Sorgen und Nöte sowie das emotionale Wohlbefinden ihrer Eltern (Parentifizierung). Nicht die Eltern geben den Kindern Sicherheit, Orientierung, Halt und Geborgenheit, sondern die Kinder den Eltern.
  • Die Kriegsenkel fühlen sich dafür zuständig, ihre Eltern glücklich zu machen (durch Leistung, Wohlverhalten, Unkompliziertheit) und führen ein Leben, das den Erwartungen ihrer Eltern entspricht (gespeist von deren Angst, wieder bei null anfangen zu müssen, wieder alles zu verlieren). Die eigenen Wünsche und Bedürfnisse werden dabei in den Hintergrund gestellt.
  • Kriegsenkel haben Schwierigkeiten, sich als Erwachsene von den eigenen Eltern abzugrenzen, sich abzulösen und den eigenen Weg zu gehen. Die große Loyalität gegenüber den eigenen Eltern führt zu Blockaden, bremst aus, steht der Unabhängigkeit und somit der eigenen Entwicklung im Weg.
  • Bei jeder Entscheidung wird überlegt: Darf ich ich selbst sein, tun, was ich will oder muss ich den Erwartungen anderer entsprechen? Dahinter steckt die Angst vor Bestrafung und Zurückweisung verbunden mit Schuldgefühlen. Bereits belanglose Entscheidungen werden so zum Problem, weil eine falsche Entscheidung Ablehnung bedeuten könnte. Es muss immer die richtige Lösung sein, sonst setzt Angst ein. So geprägte Kinder leiden später möglicherweise zeitlebens unter unerklärlichen Ängsten, die Perfektionismus, Selbstzweifel, Entscheidungsschwäche und Bindungsstörungen nach sich ziehen.
  • Das Erinnerungstabu in den Familien führt zu unklaren Ahnungen und offenen Fragen über die familiäre Biografie und sich selbst. Dies führt zu einer Verunsicherung der eigenen Wahrnehmung und ruft ein Gefühl der Identitätsverwirrung hervor und erklärt, warum so viele Kriegsenkel so verzweifelt und angestrengt auf der Suche sind. Ohne das Wissen über unsere Vergangenheit sind wir nicht vollständig, fehlt uns der sichere Boden, um in der Gegenwart zu leben und die Zukunft zu gestalten.